Obwohl ich normalerweise Seekrank wurde, blieb das schreckliche Gefühl der Übelkeit diesmal aus. Alles war leicht. Ich fühlte mich frei. Der wundervolle Duft von Nadelbäumen mischte sich mit dem typischen Geruch des Meeres. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich auf den Wellen des Ozeans schaukeln und die Bewegung des Wassers genießen. Niemals hätte ich dem Fremden gestern zugetraut, dass er mich so weit bringen konnte. Aber er hatte es geschafft. Das hier ist die Geschichte darüber, wie ich mein machtvollstes Instrument im Leben fand.

Ich bin typisch deutsch. Ich weiß, es ist ein stereotypes Denken, das sich auch noch mit Vorurteilen paart, aber in meinem Fall stimmt es wirklich. Ich bin so deutsch, dass ich Angst vor der Angst habe. Das Wort „Angst“ ist nirgendwo auf der Welt so passend für jene Gefühle der Flucht, der Verteidigung oder Schockstarre angesichts einer Gefahr, wie in der deutschen Sprache. Deshalb haben andere Nationen das Wort „Angst“ einfach genauso übernommen. Im englischen sagen die Leute: „I have angst“, wenn sie von irgendetwas die Hosen voll haben.

Ich gehe die meiste Zeit mit vollen Hosen durch die Welt. Wenn mein Kater morgens von seinem Nachtausflug zurückkehrt, bin ich froh, dass er überlebt hat. Ich gehe fast täglich davon aus, dass er von diesem Streifzug diesmal nicht zurückkehrt und bin dann überrascht, wenn er am nächsten Morgen doch wieder miauend vor der Türe steht. Wenn ich eine Grippe habe, denke ich an meinen letzten Urlaub und suche nach passenden Tropenkrankheiten. Ruft mein Chef mich zu sich, glaube ich, ein Kündigungsgespräch führen zu müssen. Ich habe Angst davor, „nein“ oder „stop“ zu sagen, wenn mich Menschen um etwas bitten – oder mir einfach etwas aufzwingen. Ich habe Angst vor ihrer Ablehnung. Ich habe Angst alleine zu verreisen, Angst mich falsch zu ernähren, Angst keinen Partner zu finden, Angst vor einem Jobwechsel, Angst vor…der Angst.

Das erzählte ich nach zwei Margheritas diesem Rucksackreisenden in einer Strandbar auf Fuerteventura. Es war gerade zwei Uhr nachmittags und außer uns saß nur der Barkeeper an der Theke. Keine Ahnung, was mich geritten hat, dass ich den Mann neben mir ansprach. Irgendetwas hatte er an sich, das mein Vertrauen weckte. Ob es die warmen, braunen Augen waren oder seine Art und Weise, wie er auf das Meer schaute und sich dabei immer wieder durch das schlecht rasierte Gesicht fuhr, ich kann es nicht sagen. Vielleicht kam mein Vertrauen auch daher, dass er mich nicht angesehen hatte, als ich hereingekommen war. Auch jetzt, als ich mein erstes Getränk bestellt hatte, nahm er seinen Blick nicht vom Ozean. Also sprach ich ihn an:

„Hi!“, sagte ich unbeholfen.
Ich spreche sonst nie fremde Menschen an.
„Hey“, antwortete er freundlich, starrte aber weiterhin auf die Wellen vor uns. Es kam mir zwar seltsam vor, aber es ließ mir Zeit, um mich zu sortieren. Ich wusste nämlich nicht, was ich als nächstes sagen sollte. So weit hatte ich nicht gedacht.

Kurzerhand zog ich einen der Hocker mit gutem Abstand neben den seinen und nahm Platz. Dann folgte ich seinem Blick.
Dieser Ort hier war schön. Keiner, den man unbedingt gesehen haben musste, aber schön. Schöner als München Ostbahnhof, wo ich wohnte und direkt auf Züge und Gleise blickte. Diese Bar hier war zum Meer hin offen, man konnte direkt von der Terrasse aus in den goldgelben Sand stapfen und ins Meer waten. Wenn man bedachte, die Schuhe nicht aus zu ziehen. Denn der Boden hier war aus altem Holz und ich sah förmlich, wie sich Spreißel um Spreißel unter meine Haut bohrte. Die Sonne stach am Himmel, sodass der Sand aufgeheizt war. Man konnte unmöglich ohne Brandblasen bis ans Meer gelangen.
Ich teilte meine Bedenken mit dem Fremden. Ein großer Schritt für mich.

Nun drehte er langsam seinen Kopf in meine Richtung.
„Echt jetzt?“ fragte er nur.
„Naja. Ja. Guck doch mal“, sagte ich nur und deutete erst auf den Boden und dann auf den Strand.
Jetzt lachte er schallend. Ich war verletzt. Das merkte er und hörte sofort auf, sich auf meine Kosten zu amüsieren.
„Okay, sorry. Du glaubst das wirklich“, sagte er und hob beschwichtigend beide Hände.
„Was sollte ich denn sonst tun?“ gab ich ein wenig pampig zurück, denn genau das war es ja, was mich so unzufrieden machte. Ich erkannte überall eine Gefahr. Wirklich überall.
Er sah mich ein paar Sekunden abschätzend an, ehe er antwortete:

„Im großen Ganzen die kleinen Details erkennen, die das Leben lebenswert machen. Das wäre ein Anfang“.

Keine Ahnung, mit welcher Antwort ich gerechnet hatte. Mit dieser jedenfalls nicht.
„Aber dann sind die Hindernisse doch trotzdem noch da!“ moserte ich, denn das war meine übliche Art, auf Vorschläge meiner Mitmenschen zu reagieren. Jeder wusste es besser, aber keiner verstand mich. Der Typ hier auch nicht.
„Das stimmt. Hier gibt es sogar noch viel mehr Hindernisse. Siehst du die Wellen? Die sind für Surfer sehr schlecht geeignet. Das heißt, die Betreiber der Surfcamps hier haben vermutlich genervte Leute um sich herum, weil das schon der dritte Tag in Folge ist. Der Barbetreiber hier braucht dringend mehr Kundschaft, weil er sonst seinen Laden dicht machen muss. Das hat er mir letzte Woche erzählt. Und siehst du da drüben? Die Frau mit dem Strandhut? Sie ist mit irgendeiner Kunstgruppe hier, die den Tod von nahen Angehörigen verarbeiten. Ich hab sie gestern hier getroffen. Witzigerweise saß sie genau an derselben Stelle, wie du“, schloss er seinen Monolog, dem ich interessiert gelauscht hatte.

„Erzählst du mir das, weil du mir sagen willst, dass meine Probleme echt banal sind?“ fragte ich ihn und begann, ihm von meinem Leben als Bedenkenträger zu erzählen. Eine weitere Margherita später gab ich ihm eine Chance, etwas zu sagen.
„Natürlich behaupte ich nicht, dass deine Probleme banal sind. Ich wollte damit sagen, dass jeder Mensch auf diesem Erdball auch am schönsten Ort der Welt Problemen und Hindernissen begegnet. Du nimmst deine Erfahrungen mit, wohin du auch gehst. Du folgst einem inneren Muster, dem du dein Leben lang folgst. So lange, bis du erkennst, dass du es verändern kannst. Du musst nämlich nicht zwangsläufig bei diesem Muster bleiben“, erklärte er mir.

„Das würde bedeuten, dass ich meine Bedenken, die ich immer und überall habe, eintauschen kann gegen was Besseres?“ fragte ich neugierig.
„Das ist jetzt der springende Punkt. Bevor du das in Angriff nimmst, musst du dir darüber im klaren sein, wie du dich fühlen willst. Wie willst du dich fühlen?“ wollte er nun von mir wissen.
So eine Frage hatte mir noch nie jemand gestellt. Ich war überfordert.
„Ähm. Naja. Glücklich eben“, sagte ich deshalb.
„Okay, machen wir es anders. Erzähl mir von einem der allerschönsten Momente in deinem Leben“.
Ich dachte nach.

Die Kraftquelle in jedem von uns

Da fiel mir ein Wochenende mit Freunden auf einer Skihütte ein. Wir waren noch jung, vielleicht Mitte zwanzig. Das Gefühl, dass die Welt mit all ihren bunten Facetten noch vor mir lag und ich alles erreichen konnte, was ich wollte. Dieses Gefühl vermisste ich seit Jahren. Mir fiel der Geruch des Schnees ein, wenn ich morgens auf dem Hügel stand und auf das Funkeln der weißen Kristalle blickte. Ich spürte sogar die Wintersonne auf meiner Haut. Hier, auf einer spanischen Insel auf Fuerteventura, während ich erzählte.
Als ich fertig war, fühlte ich mich wunderbar. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er seine Hand auf meine Schulter gelegt hatte. Die nahm er nun langsam weg und fragte:
„Wo spürst du dieses Gefühl, das du gerade empfindest?“
Ich schloss die Augen.
„Im Bauch“, merkte ich sofort.
„Wie fühlt sich dein Bauch an? Eher eng oder weit oder warm oder kalt oder…“
„Weit und warm“, unterbrach ich ihn.
Als ich die Augen öffnete, sah er schon wieder auf das Meer.
„Schau mal auf das Wasser. Entdeckst du da irgendetwas aus deinem Erlebnis damals auf der Skihütte?“
Ja. Da war etwas. Das Funkeln der Wellen in der Sonne. Es erinnerte mich an das Glitzern des Schnees.

„Das, was du gerade getan hast, war etwas ganz wichtiges. Du hast deine Kraftquelle in dir entdeckt. Sie besteht aus vielen einzelnen Teilen, die zusammen ein machtvolles Instrument ergeben, wenn du es brauchst. Miese Situationen können durch eine Kraftquelle abgemildert werden und manchmal sogar verschwinden. Es ist wirklich ganz einfach, es braucht eben ein bisschen Übung. Aber das machst du schon. Jetzt komm“, sagte er.
„Wohin?“ wollte ich wissen.
Er war bereits dabei, seine Schuhe auszuziehen.
„Wir gehen ans Meer. Über die Holzterrasse und den heißen Sand“, grinste er.

Normalerweise hätte ich sofort abgelehnt und die Flucht angetreten. Doch mit diesem guten Gefühl im Bauch konnte ich einfach keine Angst spüren. Es war unmöglich – und unheimlich.
Ich atmete einmal tief durch. Dann kickte ich meine Flip-Flops von den Füßen und stellte mich auf den Holzboden, der sich gar nicht mal so übel anfühlte.

Nur ein einziger Schritt trennte mich vom heißen Sand. Es waren vielleicht zehn Meter, die ich gehen musste, um ins kühle Nass des ruhig plätschernden Meeres zu kommen.
Da spürte ich wieder eine Hand auf meiner Schulter. Sofort erinnerte ich mich an das schöne Gefühl, das ich damals mit meinen Freunden in den verschneiten Bergen hatte.
„Los!“ sagte er und ich konnte gar nicht anders: Ich marschierte über den Sand. Ein bisschen schnell vielleicht, aber ich tat es.
Lachend erreichte ich das Wasser. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein riesengroßer für mich. Ich hatte es getan. Ich war mutig. Hatte meine Bedenken beiseitegeschoben und eine Angst überwältigt.

Ich wollte mich unbedingt bei ihm bedanken, als mir auffiel, dass ich gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Doch als ich mich umdrehte und zur Strandbar blickte, da war er schon verschwunden. Zurück blieb eine wunderbare Erinnerung, die Teil meiner Kraftquelle wurde. Das Rauschen der Wellen, der Geruch des Meeres, der Duft von Nadelbäumen, das Rascheln von Palmblättern, der Wind auf meiner Haut. Ich spürte sie alle zusammen ganz tief in meinem Bauch, als ich am nächsten Tag auf einem Surfbrett saß, weil ich meine Angst vor dem Meer verabschieden wollte. Die Wellen waren wieder günstig, erzählte man sich.

James Zwadlo

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